1943 - Nackte Wahrheit im italienischen Kino

28.05.2012 - 07:00 UhrVor 11 Jahren aktualisiert
Paisà ist einer der Filme des Neorealismus
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Paisà ist einer der Filme des Neorealismus
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Italien ist das liebste Urlaubsland der Deutschen, doch es hat mehr zu bieten als Spaghetti, Eis, Spaghetti-Eis und schöne Frauen. In den Vierziger Jahren stellte dort der Neorealismus die Weichen für das moderne Kino.

Wenn sich das Kino in immer gleichen Mustern selbst totläuft und dann noch widrige Umstände in Politik und Wirtschaft dazukommen, ist es bald an der Zeit für etwas Neues. Zum Glück, denn wäre der Film jedes Mal wirklich tot gewesen, wenn ihn ein Regisseur dafür erklärte, so würden wir uns heute nur noch dunkel an dieses seltsame Bewegtbild-Medium erinnern.

Um die Zeit des Zweiten Weltkriegs glich die Filmproduktion in ganz Europa mehr oder weniger einer Brachlandschaft. Während der Stummfilmzeit hatte die Branche noch floriert, Staaten wie Deutschland und Italien waren weit über die Landesgrenzen hinaus für ihre epochalen Meisterwerke berühmt. 1930 entstanden in Italien gerade einmal traurige fünf Filme. Fünf! Und auch in den darauffolgenden Jahren erholte sich die Branche nur schleppend. Die Faschisten investierten nicht, die katholisch geprägte Zensur ließ kaum einen Film unverstümmelt an die Öffentlichkeit und der Großteil der Bevölkerung hatte andere Sorgen.

Die zweite Blüte des italienischen Kinos
Erst zehn Jahre später gründete der Sohn des „Duce“, Vittorio Mussolini, die Filmzeitschrift Bianco e Nero und gab damit der Kunst eine Plattform um sich auch kritisch zu äußern. Es dauerte nicht lange, bis Kritik an den immer wiederkehrenden Monumentalfilmen und Melodramen laut wurde. Es war der Filmtheoretiker und Dokumentarist Umberto Barbaro, der gegen die idealisierenden Traumfabriken und für ein wahrhaftiges Kino plädierte, und somit eine theoretische Grundlage für die Zeit schuf, die wir heute als die Zweite Blüte des italienischen Films kennen.

Der erste Regisseur, der sich auf eine solch neue Machart einließ, war der Aristokrat Luchino Visconti; soeben mit dem Kopf voller Inspiration aus Frankreich zurückgekehrt. Er drehte 1943 die Adaption des Romans Wenn der Postmann zweimal klingelt und nannte das Werk Ossessione – Von Liebe besessen. Plötzlich stand kein glamouröser Held mehr im Mittelpunkt, sondern ein armer Schlucker, der versucht, sich in den Widernissen der Welt zurechtzufinden. Der italienischen Zensur gefiel das natürlich überhaupt nicht. Sie verbot den Film nur kurze Zeit nach seiner Uraufführung.

Das harte Leben der kleinen Leute
Der Grundstein war nun jedoch gelegt für eine neue Art des Filmemachens, mit der sich mutige Regisseure besonders in der Nachkriegszeit austobten und vom alten Muff befreiten. Sie gingen hinaus aus den Studios, drehten ihre Filme auf den Straßen, inmitten der Trümmer der zerbombten Städte, mit natürlichem Licht und unbedarften Laiendarstellern. Rom, offene Stadt und der Episodenfilm Paisà von Roberto Rossellini dokumentierten geradezu den Krieg und die Befreiung Italiens.

Und auch im Kleinen, im so banalen Alltagsleben der Mittel- und Unterschicht, witterten aufmerksam beobachtende Regisseure Geschichten, die auf einer großen Leinwand die Menschen begeistern könnten. Vittorio De Sica zeigte in seinem Meisterwerk Fahrraddiebe die Probleme eines Arbeit suchenden Vaters ohne fahrbaren Untersatz und in Schuhputzer die existenziellen Probleme zweier schwer schuftender Freunde.

Tote Städte, tote Liebe, totes Kino
Der nüchterne und schmucklose Stil des Neorealismus wurde zur Ikone – und verlangte doch schon in den Fünfzigern nach einer langsamen Ablösung. 1954 drehte Roberto Rossellini Reise in Italien, in dem seine damalige Frau Ingrid Bergman und George Sanders durch die Ruinen von Pompeji liefen und ihre tote Filmehe diskutierten. Die verfallenen Gebäude der konservierten Stadt sah manch ein Kritiker als metaphorischen Abgesang auf den sich verabschiedenden Stil. Am Schluss entlockte Ingrid Bergman ihrem filmischen Gatten das wohl lakonischste „Ich liebe dich“ der Filmgeschichte. „Nur, wenn du es nicht gegen mich verwendest“, fügt George Sanders hinzu.

Ein ähnlicher Pessimismus erfasste sofort auch die Journalistenmeute: „Sind die Erfinder des Neorealismus seine Mörder?“ fragten sie in Zeitschriften und wissenschaftlichen Aufsätzen. Ganz ohne Hand und Fuß war diese Frage nicht. Auch Luchino Visconti, der zuvor neorealistische Meilensteine wie Die Erde bebt gedreht hatte, wandte sich mit der Zeit dem pompösen Ausstattungskino zu und realisierte bald aufwendige Dramen wie Der Leopard oder Die Verdammten. Letztlich ging er zum Fernsehen. Das Kino sei tot, resümierte er. Nun, da muss ich ihm leider widersprechen.

Was die Menschheit sonst noch im (Film)Jahr 1943 bewegte:

Drei Filmleute, die geboren sind
15. März 1943 – David Cronenberg, Regisseur von Die Fliege
17. August 1943 – Robert De Niro, Travis Bickle aus Taxi Driver
30. November 1943 – Terrence Malick, Regisseur von The Tree of Life

Drei Filmleute, die gestorben sind
03. April 1943 – Conrad Veidt, der Somnambule Cesare aus Das Kabinett des Dr. Caligari
01. Juni 1943 – Leslie Howard, der Angebetete Ashley aus Vom Winde verweht
30. Oktober 1943 – Max Reinhardt, Regisseur von Ein Sommernachtstraum

Die großen Festival- und Award-Sieger waren unter anderem
Oscars – Mrs. Miniver von William Wyler (Bester Film, Hauptdarsteller, Regisseur, Nebendarstellerin)
New York Film Critics Circle Award – Die Wacht am Rhein von Herman Shumlin
National Board of Review – Ritt zum Ox-Bow von William A. Wellman

Die drei kommerziell erfolgreichsten Filme
Helden der Lüfte von Michael Curtiz
Wem die Stunde schlägt von Sam Wood
Das Lied von Bernadette von Henry King

Drei wichtige Ereignisse der Nicht-Filmwelt
02. Februar 1943 – Das Ende der Schlacht von Stalingrad bedeutet die Wende im 2. Weltkrieg
06. April 1943 – Die Erstausgabe Der kleine Prinz von Antoine de Saint-Exupéry erscheint
19. April 1943 – Beginn des Aufstands im Warschauer Ghetto

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