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Das Leben ist ein wilder Vogel

14.10.2014 - 12:00 Uhr
„Magnolia“ von Paul Thomas Anderson
Kinowelt
„Magnolia“ von Paul Thomas Anderson
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Entlang des Magnolia Boulevard: Was, wenn der Moment vergeht, doch die Unerträglichkeit des Seins bleibt? Paul Thomas Anderson schickt neun Menschen an, zu singen.

San Fernando Valley, irgendwann um die Jahrhundertwende: Ein Mann in einem blauen Zweiteiler sitzt an seinem Schreibtisch in der Ecke einer ansonsten leeren Lagerhalle. Bis ihn ein Geräusch von außerhalb aufschreckt. Daher stößt er die Tür nach draußen auf und schreitet voran, bis seine Augen die angrenzende Straße vollends fassen können, wo er den Ursprung des Geräuschs vermutet. Doch wie alle Straßen des urbanen Los Angeles ist auch diese leer. Der Mann aber blickt nach links, in die Biegung des Asphalts, weil er einer Illusion verfällt, die nur Tagträumer kennen. Denn als er so nach links blickt, rauscht plötzlich ein Jeep Cherokee voran, schlägt über den Bordstein aus und rotiert in wildester Groteske, bis er auf dem Boden weiter schlittert. Weil dies allerdings die Szene eines Films ist, endet sie nicht, wie sie in der Realität enden würde: Auf den Jeep nämlich folgt ein Taxi; und auf das Taxi ein abgestelltes Harmonium. Ein ganz und gar näselndes Organ aus einer anderen Zeit als dieser Jahrhundertwende. Derweil reißt der Himmel auf. Ein neuer Tag beginnt.

„Schnitt! Sensationell.“ Aus dem Morgen wurde Mittag; aus der Lagerhalle ein Studiogewölbe. Die Kamera surrt noch immer leise, während schweißige Hände klatschen und sich zwei ebenso nasse Körper lösen. Doch die entscheidende Szene fehlt, wie zuvor schon jene Szene fehlte, die wohl hätte zeigen sollen, wie das Opfer aus dem Unfallwagen steigt; unverletzt, doch verletzlich. Stattdessen zuckt die Nadel am Tonarm eines Schallplattenspielers und rutscht letztlich unter empfänglichem Stöhnen über Vinyl. Eine weitere Melodie setzt ein, als der Tag voll Regen ohne Wolken fortfährt. Sie mischt sich unter das dissonante, faltige Tuckern des Harmoniums. 

Die Nadel zuckt noch immer, obwohl der Tag bereits die Nacht grüßt. Doch der Klang, den sie in die Welt zwingt, weicht ab vom bisherigen Tosen des Funk, dem hohlen Stolpern in Lederplateauschuhen und kräuselnden Achselhaaren in Shirts aus importiertem italienischen Nylon. Neun Menschen singen folgend; und sie singen, weil sie sonst an ihren unausgesprochenen Worten ersticken würden – jeder für sich und für sich allein in der einfallenden Dunkelheit, jeder im Argwohn an die Welt um sich herum. Es singen Menschen, die als Kinder von ihren Eltern missbraucht werden und Eltern, die ihre Kinder missbrauchen. Sie eint, was Film manchmal zu einen imstande ist: nicht der Zufall, sondern die Facetten des Menschen, der den Blick unbewusst nach links wendet, um mehr zu sehen, als offensichtlich zu sehen ist. Die Quintessenz dieser Montage zeugt nicht aus der verschlungenen Allwissenheit von neun Figuren – sie zeugt von der Mahnung eines Einzelnen. Dem Menschen, der wir waren und dem, der wir sind: dem maskulinen Misogynen und dem fühlenden Krankenpfleger, der liebessüchtigen Tochter und dem patriarchalischen Vater, dem einstigen allwissenden Kind, welches in einer Quizshow auf- und ihr nie entwuchs, und dem heutigen allwissenden Kind, welches derselben Quizshow nur noch entfliehen möchte. 

Vielleicht könnten diese Menschen nie schöner in ihrem Leid und unter den Mistelzweigen des Lebens zergehen, als zu Aimee Manns „Wise Up“ und als in ihrem eigens kreierten Aufschrei, der sie fordert aufzuwachen. Aber vielmehr als die Rettung suchen sie die illusionäre Wahrheit. Jene Wahrheit über das, was schließlich geschieht, als sich der Jeep Cherokee ein letztes Mal aufbäumt und sein Fahrer aussteigt – oder eben nicht. Was nach der letzten Szene eines Films folgt, nach dem Sex, nach der Liebe, im Hass oder Tod. Fraglich, ob eine dieser müden Seelen, deren unglückseliges Dasein lediglich als Schwamm zum Wienern ihrer Mitmenschen dient, jemals aufwacht. Fraglich, ob ihr Ruf überhaupt ein echter ist. Die Riten dieser Menschen – ihre Pillen, Tränen, Bücher; ihr Wissen, ihre Unschuld und ihre Sünde; das christliche Kreuz des Polizisten an der Wand und der Scheck des Wunderkinds für „überlegenes Wissen“: Was sind das doch für Zeichen einer materialistischen Welt, in der sie alles bedeuten – und gleichzeitig nichts. Gerade der Jüngste – ein zierlicher, femininer Junge mit Pagenschnitt, der bereits alles über das Leben zu wissen scheint –, singt schließlich, wonach auch alle anderen dürsten: einfach aufzugeben. Dann müsste er nicht mehr „vernünftig, logisch, verantwortungsvoll und praktisch“ sein, wie die Welt ihn zu gerne haben möchte, sondern er könnte verwirklichen, was er selbst ist. 

Es ist eine Szene, der nichts fehlt, weil sie alles zeigt, was den Menschen zusammenhält und zugleich in die Knie zwingt. Danach klärt sich der von allen unbemerkte Regen – er stoppt, als ob das aus einem Tanklöschzug gespeiste Wasser keinen Tropfen mehr hergeben wollte. Die Sonne schwindet endgültig hinter den Gebirgsketten der Transverse Ranges, während der Magnolia Boulevard schon in roten Rücklichtsalben träumt. Und die Nadel eine letzte Runde in den Rillen der Schallplatte gleitet. Bis der Arm des Tonabnehmers in die Höhe schießt und die Musik endet. Wie das Leben.


Hier präsentieren wir euch die Preise, die ihr gewinnen könnt und möchten uns damit auch bei all unseren Sponsoren und Medienpartnern bedanken, die sie gestiftet haben: 


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