Vietnam auf der Berlinale
Ein Wettbewerbsfilm aus Vietnam sollte mich heute um 9:30 in den Friedrichstadtpalast locken. Dass es Unsere sonnigen Tage (Cha Và Con Và) von Phan Đăng Di
überhaupt in den Wettbewerb eines großen Filmfestivals geschafft hat,
ist schon aller Ehren wert. Zumal er erst die zweite Regiearbeit von
Phan Đăng Di ist. Kürzlich strahlte Arte seinen Debütfilm
Hab keine Angst, Bi!
aus. Ich warf damals auch einen kurzen Blick hinein, habe aber aus
Müdigkeit frühzeitig abgebrochen. Heute ärgere ich mich etwas darüber.
Er scheint in eine ähnliche Richtung wie Unsere sonnigen Tage zu gehen.
Den Zugang zum Film macht Unsere sonnigen Tage dem Zuschauer eventuell zunächst nicht so einfach. Die Stärken lassen sich erst auf dem zweiten Blick ausmachen. Außerdem geht es dem Film eigentlich weniger ums Geschichtenerzählen; vielmehr möchte
Phan Đăng Di den Zeitgeist aus Saigon (eigentlich Hồ-Chí-Minh-Stadt)
in den Neunziger Jahren beschwören, einer Zeit des langsamen Aufblühen
des Landes und dem Aufkommen neuartiger gesellschaftlicher Probleme.
Dies unterstreicht er durch bedrohlich wirkende Naturaufnahmen aus dem
Mekong-Delta, in den sich die Gefühle der Menschen wiederspiegeln. Neben
dem Tabuthema der Homosexualität berichtet der Film von staatlich
gelenkten Eingriffen in die Familienplanung. Männer können sich gegen
Geld vom Staat einer Sterilisation unterziehen lassen. Finanziell in Not
geratete lassen sich da natürlich leicht verführen. Ein weiteres Thema
ist die (vielleicht etwas plakativ dargestellte) erniedrigende
Behandlung von Frauen. Sie werden entweder als Lustobjekt wahrgenommen
oder dürfen sich mit der Rolle der Mutter und Köchin begnügen.
Der Fotographiestudent Vu, hervorragend gespielt von Lê Công Hoàng,
dient uns als Auge. Er verbringt seine Freizeit mit seinen Kumpels bei
Ausflügen in die wilde Natur oder im Großstadtgewimmel und auf Partys.
Die Gruppe junger Männer hat dabei natürlich wenig Geld zur Verfügung.
Er verliebt sich in seinen Mitbewohner Thang, der ihn in die Drogenszene
und die Welt der Kleinkriminalität und des Glücksspiels einführt; mit
unschönen Folgen natürlich. Vu hat aber auch eine Beziehung zur schönen
Tänzerin Van, gespielt vom Star des Filmes. Đỗ Thị Hải Yến kennt man auch außerhalb von Vietnam, beispielsweise ist sie als Phuong in der Graham-Greene-Verfilmung Der stille Amerikaner von Phillip Noyce zu sehen.
Heute
Nachmittag traf ich mich erneut mit dem vietnamesischen Journalisten,
den ich diese Woche kennen gelernt habe. Er hat den Film inzwischen
zweimal gesehen und wir haben uns etwas eingehender über Unsere sonnigen Tage
unterhalten können, wobei er mir einige offenen Frage erklären könnte
(beispielsweise die Figurenkonstellationen etwas zu verstehen). Wir
konnten uns darauf einigen, dass der Film vielleicht ein paar Charaktere
zu viel besitzt. Insbesondere die hohe Anzahl an Frauenfiguren
behindert dabei etwas die Absicht des Regisseurs, seine Geschichten aus
einer vornehmlich männlichen Perspektive zu beleuchten.
Der Film ist Teil der Neuen Welle des vietnamesischen Kinos. Eingeläutet durch Regisseure wie beispielsweise Tran Anh Hung (Naokos Lächeln, Der Duft der grünen Papaya) oder Bui Thac Chuyên (Vertiges, Adrift)
ist das Independentkino Vietnams noch recht jung und klein, aber wohl gut
vernetzt und motiviert. Staatlich
produzierte Filme dienten bis in die Neunziger hinein einzig dem
politischen Zweck, der kommunistischen Partei und der Regierung zu
helfen. Erst seit den Neunzigern hat sich dies geändert. Viele junge
Filmemacher sind inzwischen durch das Internet in der Position, ihre
Kurzfilme auf verschieden Plattformen zu verbreiten.
SABU macht jetzt Mainstream
Der letzte Wettbewerbsfilm 2015 ist der japanische Blockbusterfilm Chasuke's Journey (Ten No Chasuke) von Hiroyuki 'SABU' Tanaka. Die verrückte Mischung aus Liebesfilm, Fantasy, Komödie und Actionfilm ist irgendwo zwischen Stadt der Engel, Die fabelhafte Welt der Amélie
und Gangsterstreifen anzusiedeln. Die Idee klingt fantastisch: Die
Schicksale aller Menschen werden von Drehbuchschreibern im Himmel
gelenkt. Die junge Yuri soll beispielsweise bei einem Autounfall
sterben. Allerdings ist der Teejunge der Schreiberlinge, Chasuke
(gespielt von Kenichi Matsuyama aus Naokos Lächeln),
in Yuri verliebt und macht sich kurzerhand auf zur Erde, um sie zu
retten. Dabei helfen ihm ein paar befreundete Drehbuchautoren und eine
rasante Geschichte voller Witz und Charme beginnt. Leider verliert der
Film in der zweiten Hälfte dann erheblich und die übertriebene
Darstellung von Gewalt gefällt mir weniger. Im Vergleich zu den
bisherigen Filmen von SABU hat mir Chasuke's Journey weniger gefallen. Monday und Blessing Bell sind da empfehlenswerter. Und visuell interessanter erscheint mir beispielsweise Kanikôsen,
der 2009 auf im Berlinale-Forum gezeigt wurde. Der neueste Film wird in
Japan (und vielleicht auch hierzulande) ganz sicher sein Publikum
begeistern können.
Gruselfilm um weibliche Hysterie
Es ging mit einem weiteren Genrefilm weiter. Angelica von Mitchell Lichtenstein
erzählt von der jungen Constance im London der Jahre 1880. Aufgrund
eines körperlichen Leidens ist ihr eine vollständige sexuelle Abstinez
auferlegt. Der Film ruft nun freudsche Theorien auf den Plan und läßt
die junge Frau furchteinflössende Vision durchleiden. Auch wenn der Film
ironisch gebrochen wird, so kann mich die phsychologische Studie nicht
vollständig überzeugen. Das Ende ist zwar durchaus interessant, aber
allzu vorhersehbar. Die Idee ist dann doch etwas zu dünn, um den ganzen
Film tragen zu können. Darstellerisch ist Angelica durchaus gut (insbesondere Hauptdarstellerin Jena Malone machten einen guten Job) und der Film besitzt eine sehr schöne Atmosphäre. Das reicht mir aber leider nicht wirklich aus.
Kon Ichikawa hat mich dann doch noch gekriegt
Mit Her Brother (Ototo) fand die Berlinale 2015 einen sehr schönen Abschluß. Nachdem ich zuvor zwei andere Filme in der Kon-Ichikawa-Retrospektive
im Rahmen des Forums sah, die ich zwar gut fand, mich aber nicht
wirklich begeisterten, konnte mich der dritte Film nun endlich mit
Ichikawa versöhnen. Der Tempel zur goldenen Halle und An Actor’s Revenge
hatten mir es etwas schwer gemacht und waren für mich zu religiös
philosophisch oder aufgrund des Kabuki-Hintergrundes zu schwer
zugänglich. Her Brother ist jedoch eine einfache, zunächst leicht
heitere Familiengeschichte. Das Geschehen wird vollständig aus der
Sicht der jungen Gen erzählt, wundervoll verkörpert durch Keiko Kishi. Da die Mutter aufgrund von Rheuma schwer
eingeschränkt ist und der Vater vorgibt zuviel arbeiten zu müssen, ist
die junge Frau gezwunden den alltäglichen Familenbetrieb am Laufen zu
halten. Die größten Sorgen bereiten ihr dabei der jüngere Bruder Hekiro.
Außerdem könnte eine Heirat sich langsam ankündigen. Die Situation
führt zu Spannungen innerhalb der Familie. Ein schwerer Schicksalsschlag
soll die Situation jedoch grundlegend verändern. Die letzte Szene des Filmes ist so grandios und emotional, dass ich Tränen in den Augen hatte.
Kon Ichikawa hat
über 80 Filme gedreht. Dabei bearbeitete er alle denkbaren Genres, was
ihn nur sehr schwer einordnenbar macht. In seiner Filmographie finden
sich unteranderem Samuraifilme, Komödien, Kriegsfilme und Melodramen. Her Brother hat mir jedoch gezeigt, dass es dort ganz sicher auch für mich noch eine ganze Menge an interessanten Werken zu entdecken gilt.
Vor
dem Film hatte ich eine Unterhaltung mit einem älteren Amerikaner, der
seit Jahrzehnten in Japan lebt und Ichikawa persönlich kannte. Ob er
selbst in der Filmbranche tätig war, habe ich in dem kurzen Gespräch
nicht herausfinden können, liegt allerdings nahe. Ich war sehr
begeistert von dessen filmischen Schaffen und zeigt mir auf, wie wenig
Ahnung ich eigentlich vom klassischen japanischen Kino habe. Eigentlich
bilde ich mir ein, mich auf diesem Gebiet etwas auszukennen, aber dieser
ältere Herr war einfach eine ganz andere Liga. In der Vorstellung von Her Brother um 22:30 im Kino Arsenal saßen übrigens auch Atsushi Funahashi, der Regisseur von Nuclear Nation, sowie Ulrich Gregor, der gestern die Rosi-Einführung hielt. Echte Filmfans eben... Her Brother war übrigens für mich der insgesamt 300ste Berlinale-Film in 11 Jahren.
Berühmte letzte Worte?
So
Leute, das war's mit dem Filmeschauen. Morgen werde ich trotz
Berlinale-Kinotag in keine Kinos mehr gehen. Ich werde in aller Frühe in
einen Zug steigen und meine drei Mädels von der Oma abholen. Ich freue
mich schon riesig darauf, die Zwillinge endlich wieder in die Arme
schließen zu dürfen. Sie haben mir inzwischen sehr gefehlt. Und am
Montag geht dann auch wieder der Alltag los. Aber das war es noch nicht
ganz mit meinem Blog. Ich werde in den nächsten Tagen noch eine
Zusammenfassung zu den Berliner Filmfestspielen von 2015 bringen. Bis
dahin...
Zusammenfassung
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Unsere sonnigen Tage (Cha Và Con Và) von Phan Đăng Di: 7 von 10 Berlinalebärchen
- Chasuke's Journey von Hiroyuki 'SABU' Tanaka: 6,5 von 10 Berlinalebärchen
- Angelica von Mitchell Lichtenstein: 6 von 10 Berlinalebärchen
-
Her Brother (Ototo) von Kon Ichikawa: 8 von 10 Berlinalebärchen
Meine bisherigen Blogeinträge zur Berlinale: